Wenn ich von einer Reise zurückkehre werde ich oft gefragt „Wie war’s?“. Oft weiß ich dann gar nicht was ich sagen soll. Manche Erlebnisse lassen sich mit Worten schwer beschreiben. So wie mein Besuch im buddhistischen Kloster Plum Village in Frankreich von Thich Nhat Hanh im Januar 2014.
Du kannst diese Episode besser verstehen wenn du nichts nebenbei machst.
Du kannst jetzt deinen Atem wahrnehmen.
Die Geräusche die dich umgeben.
Und vielleicht merkst du schon wie du innerlich ruhiger wirst. Achtsamkeit war das was ich eine Woche lang im buddhistischen Kloster Plum Village von Thich Nhat Hanh bei Bordeaux in Frankreich geübt habe.
Morgens um sieben in Frankreich
Es ist kurz vor sieben Uhr morgens in der Frühstückshalle. Draußen ist es noch dunkel. Geschirr klappert. Ich stehe an den beiden Schlangen des Frühstücksbuffets. Ich nehme mir einen Teller vom Stapel, ein Messer und einen Löffel. Die Mönche und Gäste vor mir legen in aller Seelenruhe Essen auf ihre Teller. Ich verlagere mein Gewicht von einen Bein aufs Andere. Ich schaue vor wie lange die Schlange noch ist. „Geht das nicht ein bisschen schneller?“, brüllt plötzlich eine Stimme in meinem Kopf. Das passiert oft wenn ich hungrig oder ungeduldig bin. Die Kalligrafie in der Speisehalle mit der Aufschrift
„Don’t hurry enjoy the present moment“
empfinde ich als Provokation. Endlich! Die Schlafmütze vor mir hat ihren Teller gefüllt und ich stehe vor dem großen dampfenden Topf mit dem süßlich nach Zimt duftenden Haferbrei. Ungeduldig nehme ich den großen Schöpflöffel in die Hand.
Plötzlich: Die Uhr spielt eine Melodie und schlägt sieben Mal.
Alle Mönche und Gäste erstarren.
Es sieht so aus wie wenn man bei einem Video die Pausentaste drückt.
„Was ist denn jetzt schon wieder los?!“, denkt mein Kopf genervt.
Die Glocke der Achtsamkeit
Immer wenn eine Glocke ertönt, wie beispielsweise eine Uhr, ein Telefon, ein Gong oder eine Kirchenglocke steht das Leben in Plum Village für einen kurzen Augenblick still. Alle werden plötzlich nahezu bewegungslos, schweigen und kehren zu sich selbst zurück. Der Gong verklingt. Das Leben geht weiter.
Nach gefühlten drei Stunden fülle ich endlich den Haferbrei in meine Schüssel und bediene mich am Buffet mit klein geschnittenen Bananen, Orangen, Äpfeln, Birnen, Nüssen, leckerem Vollkornbaguette und Olivenaufstrich.
Ich nehme auf einer der Bierbänke Platz. Die anderen Gäste am Tisch grüßen mich indem sie sich verbeugen und ihre Hände vor der Brust zusammen führen. Die ersten 20 Minuten essen wir in Stille. Das finde ich gerade morgens sehr angenehm.
Die fünf Achtsamkeitsübungen
In Plum Village ist das Essen vegan, also vegetarisch ohne Eier und Milchprodukte. „Achtung vor dem Leben“ ist die erste von fünf Achtsamkeitsübungen, die da heißt das Leben zu schützen und nicht zu töten. Vegetarisch zu leben bedeutet für die Bewohner von Plum Village, auf Milchprodukte und Eier zu verzichten, da diese ein Produkt der Fleischindustrie sind. Bei der Erzeugung von Milchprodukten entstehen beispielsweise als „Abfallprodukt“ Kälber, da eine Kuh ohne Kalb keine Milch geben würde. Bei der Zucht von Legehühnern werden in Deutschland jährlich 45 Millionen männliche Küken gleich nach dem Schlüpfen aussortiert und entweder geschreddert oder vergast. In den USA werden über 80 % des Mais und über 95 % des Hafers für die Viehfütterung verwendet. Gleichzeitig berichtet die UNESCO dass täglich über 40.000 Kinder sterben, weil sie zu wenig zu Essen haben.
Intersein: Alles ist mit allem verbunden
Thich Nhat Hanh lehrt dass alles miteinander verbunden ist. Ein Stück Papier besteht aus vielen Nicht-Papier-Elementen wie Sonne, Wasser, dem Holzfäller und dem Essen, das der Holzfäller gegessen hat. Würde man eines dieser Elemente entfernen, gäbe es kein Papier. Alles bedingt und durchdringt sich gegenseitig.
„Washing dishes is like bathing a baby Buddha“
Nach dem Frühstück gehe ich zu den fünf mit Wasser gefüllten Plastikwannen die auf einem Tisch stehen und wasche mein Geschirr ab. „Geschirr zu waschen ist wie einen Baby-Buddha zu baden“ ist die gedankliche Einstellung mit der wir das hier machen. Damit macht es richtig Spaß. Ich spüre das warme Wasser auf meinen Händen, wasche das Porzellan sanft mit dem Lappen ab und stelle es zum Abtropfen in den Halter.
Der Tagesablauf im Kloster Plum Village
In der Speisehalle ist auf einer großen weißen Tafel der Tagesablauf angeschrieben der fast jeden Tag gleich ist:
05:15: Weckruf
06:00: Sitzmeditation
06:45: Frühstück
09:00: Dharma-Vortrag/Arbeitsmeditation
11:30: Gehmeditation
12:30: Mittagessen
15:00: Arbeitsmeditation bzw. Dharmagespräche
17:00: Sport
18:00: Abendessen
20:00: Meditation bzw. freier Abend
21:30: Edle Stille
Einmal in der Woche, montags, ist Lazy Day, das heißt ohne Programm.
Kulturschock im Kloster
Gemeinschaft wird groß geschrieben im Kloster. Der gefühlte Gruppenzwang war neben der extrem gelebten Gelassenheit und Freude erst einmal ein extremer Kulturschock, der mich in den ersten Tagen total genervt hat. Gruppenschlafräume sind üblich. Das kleinste Übel war ein kleines Doppelzimmer mit Stockbett, Dusche, Waschbecken, Regal und einem Fenster mit Blick auf einen moosbewachsenen knorrigen Baum, das ich mir mit Marc aus Wiesbaden teile. Das hat auch ganz gut geklappt. Niemand von uns hat geschnarcht oder nachts um zwei Uhr mit irgendwelchen Plastiktüten geraschelt. Sprechen war nachts ohnehin tabu – von 21:30 bis nach der Morgenmeditation war „edle Stille“ angesagt.
Plum Village, auf deutsch Pflaumendorf, besteht aus drei Weilern die nach Geschlechtern getrennt sind:
- In Lower und Middle Hamlet wohnen Nonnen und Frauen,
- in Upper Hamlet die Mönche und Männer. Trotzdem sind einige Frauen in Upper Hamlet.
Hetero-Paare in einer Langzeit-Partnerschaft dürfen in beiden Hamlets übernachten. Außerdem sind einige Mütter da, die ihre Söhne für eine Woche auf dem dreimonatigen Winterretreat besuchen. Mönche und Gäste sind etwa halb-halb und schlafen in unterschiedlichen Häusern. Die Mindestaufenthaltszeit beträgt eine Woche, denn nur am Samstagvormittag gibt es eine kurze Einführung für neue Gäste durch einen jungen Mönch.
Wir sitzen auf dem Boden, stellen vor wie wir heißen, wie alt wir sind, woher wir kommen und warum wir hier sind. Die Buddhistische Psychologie fasziniert mich schon seit etwa zwei Jahren. Ich habe vier Bücher von Thich Nhat Hanh gelesen die mich dazu bewegt haben, einmal hierher zu fahren, um die Praxis der Achtsamkeit in einer Sangha, einer Gruppe, zu üben. Das sei einfacher als zu Hause alleine meint „Thay“, was „Lehrer“ heißt und hier alle zu Thich Nhat Hanh sagen.
Wir machen eine kurze Meditation. Doch mein Blick klebt am strahlenden Lächeln dieses Mönchs und seinen leuchtenden Augen. „Don´t look at me, look at you“, sagt er plötzlich in die Runde und ich wache aus meiner Trance auf.
Ab dritten Woche muss man eine Begründung schreiben warum man länger als zwei Wochen bleiben möchte.
Zweimal pro Woche, sonntags und donnerstags, hält Thich Nhat Hanh einen Dharma-Vortrag. Dharma ist die Lehre des Buddhismus. An diesem Tag kommen auch die Frauen und Nonnen nach Upper Hamlet. Vor dem Vortrag singen Mönche und Nonnen ein Lied, es gibt eine kurze Meditation und ein paar Leibesübungen. Nach der fünften Kniebeuge frage ich mich ob das noch mehr wird und bin erstaunt über die körperliche Fitness des 87 Jahre alten Thay.
Die Geschichte von den Mönchen, dem Bauern und den Kühen
Er beginnt seinen Vortrag und erzählt eine Geschichte:
Eines Tages saß der Buddha mit seinen Mönchen im Wald. Sie hatten ein vorzügliches Mittagessen und genossen die Gemeinschaft der anderen.
Ein Bauer eilte vorbei und war sehr unglücklich. Er fragte: „Habt ihr meine Kühe gesehen? Alle meine Kühe sind mir heute morgen weggelaufen. Wenn ich meine Kühe nicht habe. Wie kann ich leben? Ich denke ich werde sterben. Ich denke ich werde mich umbringen. Ich habe auch einige Felder mit Sesam und die Insekten haben alles aufgefressen Ich leide so sehr. Ich denke ich werde mich umbringen. Ich kann nicht ernten. Ich habe keine Kühe. Wie kann ich leben? Ich denke ich werde mich umbringen.“
Und dann sagte Buddha: „Lieber Freund, wir sitzen hier seit mehr als einer halben Stunde und wir haben keine Kühe gesehen die hier vorbeigelaufen sind. Es ist besser du gehst in die andere Richtung.“
Der Bauer bedankte sich, lief davon und der Buddha sagte zu seinen Mönchen: „Liebe Mönche, ihr seid die glücklichsten Menschen auf der Welt. Ihr habt keine Kühe. Und keine Ängste sie zu verlieren.“
Thay erklärt diese Geschichte: Wenn wir Kühe haben, sollen wir sie loslassen. Unsere Idee der Glücklichkeit ist wie eine Kuh. Wegen unserer Vorstellungen von Glücklichkeit können wir nicht glücklich sein. Jeder von uns sollte sich mit einem Stück Papier hinsetzen und die Namen Kühe, unsere Vorstellungen von Glück, aufschreiben.
Formelles Mittagessen
Nach dem Dharmavortrag ist formelles Mittagessen. 340 Menschen bedienen sich in sechs Schlangen im Speisesaal am Buffet und gehen dann mit ihrem Teller zurück in die Buddha-Halle. Bis alle ihr Essen haben dauert es fast eine Stunde, denn alle beginnen gleichzeitig zu essen. Wo ich beim Dharmavortrag am Sonntag fast vor Hunger implodiert und vor Wut explodiert wäre, das bringt mich am Donnerstag nicht mehr aus der Ruhe.
Ich sitze mit im Kreis in der zweiten Reihe direkt gegenüber von Thich Nhat Hanh. Wow, Mittagessen mit einem so berühmten Schriftsteller, denke ich mir. Ich erinnere mich an eines seiner Bücher, wo er über achtsames Essen schreibt und dass wir unsere Nahrung fünfzig mal kauen sollen. Ich beginne ihn beim Essen zu beobachten und zähle mit. 54-mal! Das ist ein guter Lehrer. Gute Lehrer leben das vor, was sie ihren Schülern lehren.
Abschied von den Kühen
Nach dem Mittagessen kommt Marc zu mir. Er fühlt sich etwas erkältet und fährt schon heute nach Hause. „Es ist ja jetzt nichts mehr. Ich wollte nicht fahren ohne mich von dir zu verabschieden.“ Ich freue mich über diese Geste. Gleichzeitig bin ich traurig, dass es der letzte Tag ist und es außer den gemeinsamen Mahlzeiten keine Gruppenaktivitäten mehr gibt. Heute ist Lazy Evening, morgen ist Lazy Morning.
Nach dem Frühstück am Freitag fährt uns ein Langzeitgast zum Bahnhof von Sainte Foy la Grande.
Er fährt achtsam.
Also langsam.
Zu langsam.
Meine Ungeduld ist wieder da.
Ich brauche nämlich noch eine Fahrkarte:
Bekomme ich in diesem Dorf eine Fahrkarte?
Reicht die Zeit dort?
Ist der reservierungspflichtige Zug vielleicht schon ausgebucht?
Wenn ja: Was mache ich dann?
Muss ich irgendwo in Frankreich übernachten?
Ich bemühe mich den in meinem Kopfkino beginnenden Horrorfilm zu beenden. Mit viel Mühe gelingt es meine Konzentration auf die vorbeiziehende neblige Hügellandschaft zu werfen.
Natürlich klappt am Bahnhof alles. Wenige Stunden später sitze ich im französischen Hochgeschwindigkeitszug TGV von Paris nach Saarbrücken. Im Ruhebereich. Nur haben das wie so oft einige Mitreisende mal wieder nicht gerafft. Diesmal ist es eine Familie mit zwei Kindern die sich lautstark unterhalten, telefonieren und auf ihren Smartphones irgendwelche Videos anschauen. Natürlich mit Ton und ohne Kopfhörer.
Ich merke wie Wut in mir aufsteigt. Auch bei meinem Mitreisenden am Sitz gegenüber der an seinem Laptop etwas schreiben will. Er wirft den Vieren böse Blicke zu, die ihn jedoch gar nicht registrieren. „Don’t look at me, look at you!“ höre ich plötzlich eine Stimme in meinem Kopf. Ich versuche bei mir zu bleiben, schließe die Augen und beginne meinen Atem und meine Gefühle zu beobachten. Erst ist es schwer. Dann grinse ich.
Eine Kuh! Ich lasse sie los.
Weitere Infos zu Plum Village
Hier die vier Bücher von Thich Nhat Hanh die ich gelesen habe:
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Das Bild zeigt die große Glocke in Plum Village.