„Don’t get lost“ sagt der Vermieter zu mir als ich mein Zimmer verlasse. Scheinbar haben sich auf dieser Insel schon viele Wanderer im Dschungel verirrt. Ich befinde mich in Miyanoura auf der subtropischen Insel Yakushima ganz im Süden Japans. Die Insel ist wegen ihrer bis zu 3000 Jahre alten Zedernbäume Unesco-Weltkulturerbe. Eigentlich ist das der Wahnsinn: das ist älter als unsere christliche Zeitrechnung. Meine Wanderung führt durch einen mystischen Märchenwald vorbei an Wasserfällen, Farnen und moosbewachsenen Bäumen. Über Steine, Wurzeln und felsige Bachläufe. Die Luft ist frisch und feucht. Man sagt dass es auf Yakushima an 35 Tagen im Monat regnet.
Gestern hat es nicht geregnet und verlaufen habe ich mich dank guter englischsprachiger Beschilderungen, die es fast überall in Japan gibt, auch nicht. Vielleicht hat der November in Japan 36 Tage. Das wäre gar nicht so abwegig, sind doch hier in Japan einige Dinge anders. Auch die Zeitrechnung.
Als ich am zweiten Tag meines Japan-Aufenthaltes im Bahnhof von Osaka meinen „Exchange Voucher“ gegen einen Japan Rail Pass eintauschen will schreibt der Schalterbeamte als Gültigkeitkeitszeitraum „25.10.29~25.11.11“ hinein. Hallo?! Ich wollte heute losfahren und nicht erst in 12 Jahren! Eine Recherche bei Wikipedia erklärt die Sache: Wir befinden uns in der Heisei-Zeit. Heisei heißt „Frieden überall“ und ist die Regierungsdevise des seit 1989 im Amt befindlichen Kaisers Akihito. Und weil das Jahr 1989 das erste Jahr des Regierungsantritts war befinden wir uns aktuell im Jahr 25.
Völlig unvorbereitet bin ich in Japan angekommen nachdem ich während der Überfahrt von Shanghai nach Kobe wegen Übelkeit nicht wie geplant meinen Reiseführer lesen konnte. Japan und der Zen-Buddhismus haben mich schon seit einigen Jahren fasziniert. Ich meditiere täglich zwanzig Minuten, war bei einem Grünteekurs in München, habe einen Aikido-Schnupperkurs gemacht, die Biografie von Steve Jobs (der viele Inspirationen für Apple aus Japan hatte) und das Buch „Gebrauchsanweisung für Japan“ gelesen. Kurz: Ich dachte mir „da fahr ich mal hin!“ Und plötzlich war ich da. Während ich für die ersten vier Wochen meiner Weltreise viel vorab zu Hause recherchiert vorbereitet hatte, hatte ich für Japan nur ein paar Ideen wo ich hinfahren könnte. Kyoto zum Beispiel. Doch mein Reiseführer erwähnte dass es allein in Kyoto 1600 buddhistische Tempel, 400 Shinto-Schreine und 17 Unesco-Weltkulturerben gäbe. Ja wo soll ich denn da anfangen? Es ist ja normalerweise nicht mein Stil einfach irgendwo hinzufahren. Bisher waren alle meiner Reisen perfekt recherchiert und durchgeplant. Ich fühlte mich völlig überfordert, desorientiert und unorganisiert. Erst recht als meine beiden wichtigsten Hilfsmittel, Handy und Internet, zu versagen drohten da mein Steckeradapter nicht passte und das Passwort für das kostenlose Wifi im Hotel aus japanischen Schriftzeichen bestand.
Um Ruhe in die Sache zu bekommen habe ich erst einmal das nur für eine Nacht gebuchte Einzelzimmer in Kobe um weitere drei Nächte verlängert. Mit 40 Euro pro Nacht war es günstig und mit Balkon,Badewanne, Wasserkocher, Schlafanzug und einem Klo mit „Hinternwaschanlage“ komfortabel ausgestattet. Zudem war mir Kobe aufgrund seiner überschaubaren Größe und guten Anbindung an das Hochgeschwindigkeitsnetz der Shinkansen sympathisch. Nach einem 20 minütigen Spaziergang vom Hotel erreichte ich Shin-Kobe, den Haltepunkt der Hochgeschwindigkeitsstrecke. Von dort wollte ich mit dem Japan Rail Pass Tagesausflüge machen. Der Bahnhof liegt am Berghang zwischen zwei Tunnels und besitzt nur zwei Durchgangsgleise. Dort bin ich aus dem Staunen jedoch erst einmal nicht mehr herausgekommen. Begeistert wie in Kindertagen, wo meine Oma mit mir Stunden am Bahnhof von Neunkirchen am Sand verbrachte, beobachte ich die Abfertigung der Züge. Im zwei Minuten Abstand fahren die Züge. Während ich vorne im Tunnel noch die Schlusslichter sehe, fährt hinten schon der nächste Zug aus dem Tunnel an den Bahnsteig. Eine derart dichte und eindrucksvolle Zugfolge kenne ich nur von der automatischen Nürnberger U-Bahn oder der Münchner S-Bahn-Stammstrecke. Shin-kan-sen bedeutet neue-Stamm-Strecke, wird jedoch auch für die Züge benutzt welche diese Strecke befahren und die eine Mischung aus Eisenbahn, Flugzeug, Raumschiff und Sportwagen sind.
Während bei uns in Deutschland ein schlapsiger Pfiff und die Abfahrtskelle bei der Abfahrt üblich sind läuft hier fast alles geräuschlos ab. Damit man trotzdem merkt dass sich etwas bewegt macht fast alles lustige Klingeltöne wie ein Kinderspielzeug: Bahnsteigtüren, grüne Ampeln, Müllautos. Bis auf das Abfahrtssignal der Züge das an den Buzzerton eines Radioweckers erinnert. Mit eleganten Handbewegungen dirigiert die weiße Handschuhe tragende Bahnsteigaufsicht sekundengenau den Abfahrtauftrag. Jeder Prozess, jede Körperbewegung erfolgt in äußerster Präzision und Eleganz wie ich es bisher nur bei einer japanischen Teezeremonie in Igensdorf erlebt habe. Die Pünktlichkeit ist international konkurrenzlos: im Jahr 2005 betrug die durchschnittliche Verspätung der Shinkansen-Züge sechs Sekunden. Alle Züge erreichen pro Tag eine Verspätung von zusammengerechnet fünf Minuten. Hat ein Lokführer mehr als 15 Sekunden Verspätung muss er sich schriftlich verantworten. Und das obwohl dies für die Fahrgäste schwer nachprüfbar ist, da die Bahnsteiguhren keine Sekundenzeiger haben. Auf den Bahnsteig kommt man übrigens nur mit gültiger Fahrkarte oder einer Bahnsteigkarte. Auf allen Bahnsteigen in Japan sind die Halteplätze der Zugtüren farbig am Boden markiert wo sich die Fahrgäste diszipliniert in einer Schlange aufstellen. Die Shinkansen-Bahnsteige haben zusätzlich eine Absperrung entlang der Bahnsteigkante und hier in Kobe, einem Durchgangsbahnhof, zusätzlich brusthohe Bahnsteigttüren. Diese Schiebetüren werden von der Aufsicht bei Einfahrt eines Zuges geöffnet und bei Abfahrt wieder geschlossen. Die Shinkansen-Züge selbst haben 8 oder 16 Wagen, davon sind einige für Fahrgäste ohne Reservierung und einige Greencars, wie hier die erste Klasse heißt. In der zweiten Klasse sind fünf Sitze nebeneinander angeordnet, die zur Fahrtrichtung drehbar sind, reichlich Beinfreiheit bieten und deren Sitzteiler zu den kleinen Fenstern passen. Obwohl bis zu 100 Menschen in einem Wagen sitzen ist es sehr leise. Es ist erwünscht dass die Fahrgäste ihr Handy auf lautlos stellen und zum telefonieren in den Einstiegsbereich gehen. Japan ist ein Paradies für ruhebedürftige und introvertierte Menschen. Der Umgang der Menschen ist äußerst höflich und respektvoll: kommt der Schaffner in den Wagen verbeugt er sich und bevor er den Wagen wieder verlässt dreht er sich um, verbeugt sich zu den Fahrgästen und verschwindet dann durch die geräuschlos schließende Übergangstür in den nächsten Wagen.
Insgesamt hat mich die japanische Eisenbahn tief beeindruckt und ich hätte nicht gedacht dass das Schweizer Niveau nochmals zu überbieten ist. Übrigens rein qualitativ und quantitativ und nicht preislich. Ich bin positiv überrascht vom Preisniveau welches das Vorurteil von Japan als extrem teures Reiseland bisher nicht bestätigt hat.
Wo bin ich also rumgefahren?
Von Kobe aus habe ich das etwa 60 Kilometer entfernte Kyoto besucht. Dort musste ich erst einmal das Bus fahren neu lernen. Während man in Deutschland vorne einsteigt, beim Fahrer bezahlt und hinten aussteigt betritt man in Japan den Bus hinten und zahlt vorne beim Fahrer beim Aussteigen. Die Tempel und Gärten liegen alle am Rand der Stadt und sind wirklich wunderschön. Um den Kontrast zu verstärken scheint man die restliche Stadt bestehend aus Betonklötzen und oberirdischen Stromleitungen möglichst hässlich gebaut zu haben.
Zu meinem Pflichtprogramm in Japan gehörte der Besuch eines Onsen. Das ist ein japanisches Badehaus. Japans Lage auf der Grenze zwischen der euroasiatischen und pazifischen Platte hat den Nachteil dass es hier oft Erdbeben gibt und den Vorteil dass fast überall heißes Wasser aus der Erde sprudelt. Im Eingangsbereich des Onsen ziehe ich meine Halbwanderschuhe aus, zahle den Eintritt, bekomme ein Handtuch und gehe in die Sammelumkleidekabine für Männer wo ich meine Klamotten ausziehe und in einen Spint sperre. Anschließend betrete ich nackt die Badehalle und dusche mich gründlich. Die Duschen sind entlang der Hallenwand auf Kniehöhe montiert, es gibt Hocker und Duschgel, man duscht im sitzen. Das Wasser in den zwei Becken ist recht warm, 40-42 Grad Celsius und ich habe es meist nicht länger als zehn Minuten darin ausgehalten. Das Bad tat zwar gut jedoch hat mich das Konzept nicht überzeugt, da wie in deutschen Saunalandschaften üblich Ruheräume und Gastronomie zur Überbrückung mehrerer Badegänge fehlen. Es geht eben nichts über Bad Staffelstein…
Über die im Jahr 1964 eröffnete und damit älteste Hochgeschwindigkeitsstrecke der Welt bin ich dann nach Yokohama gefahren. Fast alle Strecken außerhalb des Hochgeschwindigkeitsnetzes sind Schmalspurbahnen und mit einer solchen bin ich dann auf 1067 mm Kapspur nach Kawaguchiko am gleichnamigen See am Fuße des Fujisan weitergefahren. Mit 3776 Metern ist der Vulkan der höchste Berg in Japan und ebenfalls Unesco-Weltkulturerbe. Drei Nächte habe ich in einem Ryokan übernachtet, einem japanischen Gästehaus. Die Zimmer sind schlicht eingerichtet: Tatami-Matten aus Stroh als Bodenbelag, eine Matratze zum Ausrollen, ein Tisch, sonst nix. Dabei lerne ich eine weitere Besonderheit Japans kennen: das häufige Schuhe an- und ausziehen. Im Eingangsbereich des Ryokan ziehe ich meine Straßenschuhe aus und Hausschuhe an die ich vor Betreten meines Zimmers wieder ausziehe. Muss ich zur Toilette ziehe ich meine Hausschuhe vor der Klotüre aus und steige dann ganz elegant in die natürlich für meine 44er-Füße viel zu kleinen Kloschuhe um den restlichen Meter bis zur Toilettenschüssel zu überbrücken.
Ich zog es vor den Fujisan von unten zu betrachten der sich am ersten Tag während meiner Radtour um den See jedoch hinter den Wolken versteckte. Am zweiten Tag genoss ich nach einer Seilbahnfahrt auf die Fuji Viewing Plattform einen wunderschönen Blick auf das Wahrzeichen Japans der einen Heiligenschein aus Wolken trug. Japaner fotografieren übrigens auch im eigenen Land jeden Scheiß. Beim klassischen Fujibild stellt sich der Japaner vor den Berg, macht mit der Hand ein Viktory-Zeichen und sagt dann lächelnd „Fujiiiiisan“.
Zwei Nächte war ich in Hiroshima. Am 6. August 1945 um 8:15 Uhr explodierte in 600 Metern Höhe eine Atombombe und vernichtete die Stadt fast völlig. 140.000 Menschen starben und viele leiden heute noch an den Folgen radioaktiver Verstrahlung. Das Friedensgedächtnismuseum und der Peace Memorial Park haben mich berührt und bewegt. Ich habe geweint. Gleichzeitig hat es mir viel Mut und Hoffnung gemacht. Die erste Woche in Japan war doch zeitweise sehr von Gefühlen von Heimweh und Einsamkeit begleitet. Wenn diese Menschen jedoch diese Stadt wiederaufbauen konnten schaffe ich auch meine Weltumrundung.
Nach einer Zwischenübernachtung in Kagoshima bin ich vorgestern mit der Fähre in Yakushima angekommen. Heute bin ich mit der Fähre zurück von Yakushima nach Kagoshima und – mangels bezahlbarer Übernachtungsmöglichkeit – mit dem Shinkansen nach Kokura gefahren.
Die Leiden des Weltreisenden
Wie eingangs schon erwähnt bin ich nun Organisator, Reiseleiter und Reisender in einer Person. Das ist sehr anspruchsvoll und hat mich in den ersten Tagen in Japan erschlagen. Insgesamt fünf Kilo habe ich in den ersten vier Reisewochen abgenommen. Dazu kommt dass ich die gesamte Planung per Handy mache. Während ich mit normalen E-Büchern gut zurecht komme, die ich über die Kindle-App auf meinem Handy lese, ist dies bei Reiseführern sehr unkomfortabel und unausgereift. Suchfunktion und Blättern sind langsamer als auf Papier, die Karten klein und ich muss ständig rein und raus zoomen. Es ist sehr anspruchsvoll einerseits viel sehen zu wollen und andererseits bewusst Phasen zum recherchieren, planen und entspannen einzuplanen. Deshalb habe ich auch lange nicht geschrieben. Inzwischen habe ich die richtige Balance zwischen Besichtigen, Planen und Erholen gefunden. Ich habe es geschafft meine Energiequellen wie regelmäßige gesunde Mahlzeiten, ausreichend Schlaf in Einzelzimmern, Telefonate mit zu Hause, Morgenmeditation und Krafttraining wieder in meinen Reisealltag zu integrieren.
Wie geht’s weiter?
Morgen fahre ich nach Osaka wo ich in einem Kapselhotel übernachten und die Stadt Nara mit dem größten Bronzebuddha der Welt besuchen möchte. Am Montag will ich nochmal nach Kyoto und verbringe dann die letzte Nacht in Japan wieder in Kobe. Von hier fahre ich am Dienstag mit der Fähre nach Shanghai und nach einer Nacht im Hotel über die höchste Eisenbahn der Welt nach Lhasa und über den Friendship Highway nach Kathmandu. Am 25.11. fliege ich mit der Thai Air von Kathmandu nach Bangkok und will dann in Thailand am Strand entspannen und die weitere Route austüfteln.
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Aufnahme im Garten des Tenryū-ji in Kyoto.