Eine Probefahrt mit dem ICE 4

ICE 4, Martin Luther, Dominik SommererZum 31. Oktober 2016 ging bei der Deutschen Bahn die vierte Generation des InterCityExpress in den Fahrgasteinsatz. Ich bin mitgefahren und schildere meine Erfahrungen vom ICE 4 garniert mit Zitaten aus der Bundesbahn-Werbung für den ersten ICE von vor 25 Jahren. Setzt der ICE 4 wirklich neue Standards, wie die Deutsche Bahn verspricht?

Meine Probefahrt führt mich von Nürnberg nach Göttingen. An einem frostigen sonnigen Herbsttag kommt der ICE 4 am Bahnsteig zu stehen. Beim Einsteigen fällt auf, dass die Außentüren piepsen, wenn sie vom Lokführer zum Öffnen freigegeben sind – das neue „Türfindesignal“ zum Wohle für Sehbehinderte und zum Leidwesen für alle nicht hörgeschädigten Fahrgäste. Kann man stattdessen nicht wie in Japan eine schöne Melodie abspielen? Abfahrt mit zehn Minuten Verspätung aufgrund einer Weichenstörung. Schaffe ich in Göttingen den Acht-Minuten-Anschluss nach Berlin?

Erste Klasse

Ich fahre seit einiger Zeit gelegentlich erste Klasse. So auch heute. Dank BahnCard 50 ist es gar nicht so teuer. Es sind weniger Fahrgäste im Wagen und es herrscht eine ruhigere und entspanntere Atmosphäre. Gut zum Arbeiten – zumindest theoretisch, wie sich später noch zeigen wird. Da sich nur drei statt vier Sitzplätze nebeneinander befinden habe ich mehr Platz. Die Sitze des ICE 4 in der ersten Klasse haben an jedem Platz Fußstützen, eine Steckdose und eine Leselampe. Die Zeiten haben sich geändert: Während es früher in der ersten Klasse Polstersessel gab und in der zweiten Klasse Kunstledersitze ist es heute umgekehrt. Geschmacksache.

Speisewagen

Mein Spaziergang durch den 346 Meter langen 12-Wagen-Zug führt mich zunächst in den Speisewagen. Das Rot der Kunstledersitze ist dunkler geworden und erinnert mich irgendwie an… – die Sitze der Silberlinge der Deutschen Bundesbahn! Ich bestelle mir an meinem Fensterplatz mit Fenster eine Tasse Grüntee. Der Zugbegleiter serviert das heiße Wasser und den Teebeutel getrennt, so dass ich selbst entscheiden kann wie lange der Tee ziehen soll. Außerdem gibt es ein Tellerchen für den benutzten Teebeutel. So professionell Tee zu servieren schaffen selbst gute stationäre Restaurants oft nicht!

Zweite Klasse

Während die Deutsche Bundesbahn beim ICE 1 die Wagen aus Komfortgründen breiter baute (wörtlich: „die breitesten die es je bei uns gab“), sind sie im ICE 4 länger und dadurch schmäler. Als „Effizienzwunder“ und „Nutzflächen-Champion“ bezeichnet DB Fernverkehr die als Baureihe 412 eingereihten Züge und verkauft den Fahrgästen dies mit „Nachhaltigkeit“. Die zweite Klasse wirkt eng. Je Doppelsitz ist eine Steckdose vorhanden.

Fensterlose Fensterplätze

Das „innovative Beleuchtungskonzept“ bei dem sich die Lichtfarbe und Helligkeit der jeweiligen Tages- und Tageszeit anpasst, habe ich während der knapp dreistündigen Fahrt nicht intensiv erlebt. Auch bei Dunkelheit war der Großraumwagen hell erleuchtet, die Leselampe am Platz sinnlos.

Die Sitzplatznummern und Reservierungen sind groß und direkt an den Sitzen angeschrieben.

Die Übergangstüren öffnen und schließen nahezu lautlos – wie in einem japanischen Shinkansen. Außerdem sind sie besser eingestellt und öffnen nicht mehr bei jeder kleinsten Bewegung, wenn man einen Platz neben der Tür hat.

Der ICE 4 fährt leise, hat eine angenehme Federung und wurde für sein Außendesign bereits zweifach ausgezeichnet: mit dem Red Dot Design Award und dem German Design Award. Das verwundert mich etwas, weil der Sitzteiler nicht auf den Fensterteiler abgestimmt ist. Das bedeutet, dass etwa jeder dritte „Fensterplatz“ kein Fenster oder nur eine eingeschränkte Aussicht hat.

Diese typisch deutsche Unsitte begann Anfang der 2000er Jahre als Bahnchef Mehdorn damit begann, mehr Sitzplätze in den ICE zu stopfen. Sie setzte sich in vielen neueren deutschen Fahrzeugen fort. Man baut erst die Hülle und schaut dann wie viele Sitzplätze man einbauen kann. Dagegen war der erste ICE vor 25 Jahren „der erste Zug der Bahn, der konsequent von innen nach außen entwickelt wurde“. Andere Länder wie die Schweiz oder in Osteuropa gestalten Fahrzeuge weiterhin so, dass Innen- und Außengestaltung ein harmonisches Konzept ergeben. Die Fahrgäste im ICE 4 scheint es nicht zu stören.

Geheimes Zugabteil

Das traditionelle Zugabteil mit einem Hauch von Privatsphäre gibt es im ICE 4 nicht mehr. Oder doch? Für Familien mit Kindern existiert in der zweiten Klasse ein Kleinkindabteil. Erwachsene Abteilliebhaber finden am Ende des Zuges ein paar Plätze in einer „Sackgasse“ ohne Durchgangsverkehr. Das gibt es für das andere Ende übrigens auch in der ersten Klasse. Dem Lokführer kann man im „stärksten ICE aller Zeiten“ im Gegensatz zu den früheren ICE-Generationen nicht mehr beim „rasen“ mit „Tempo 250“ über die Schulter schauen. Dafür sind acht reservierungspflichtige Fahrradstellplätze vorhanden.

„Ergonomische Sitze“ statt „Sessel“

Aus den „bequemen Sesseln“ der Bundesbahnwerbung von 1991 für den ICE 1 sind im Jahr 2016 in der Werbung für den ICE 4 „ergonomische Sitze“ geworden. Alleine die Wortwahl macht den Komfort- und Kulturverlust deutlich. Während sich im ICE 1 die Sitzneigung um 40° verstellen ließ sind es beim ICE 4 nur noch 38° in der 1. Klasse und 32° in der 2. Klasse.

Zurück an meinem ergonomischen Sitzplatz will ich diese Episode schreiben: Auf dem Klapptisch meines Reihensitzes kann ich den Bildschirm meines Laptops nicht ganz aufklappen: Der Klapptisch ist nicht tief genug, die Rückenlehne des Vordersitzes zu schräg. Und da die Rückenlehne meines Vordermenschen „beim Verstellen nicht zurück, sondern in die Sitzschale“ geleitet, ist dies nun ein Dauerzustand. Damit ich die Tastatur bedienen kann, muss ich meine Arme ganz weit ausstrecken. Ich setze mich um und stelle fest: An den Vis-a-Vis-Sitzplätzen ist es nicht viel besser und ich darf zusätzlich den Fußraum mit meinem Gegenüber teilen. Trotz Digitalisierungsoffensive und flotten Werbesprüchen wie „Deine Zeit gehört Dir“ ist die Sitz-Tisch-Anordnung meiner Meinung nach zum Arbeiten nicht geeignet.

Der ICE 4 erreicht Göttingen. Pünktlich. Der Anschlusszug nach Berlin ist ein ICE der ersten Generation aus dem Jahr 1991. Ich habe ein ganzes Abteil für mich alleine. Ich knipse das Licht aus. Früher war nicht alles besser. Aber vieles gut.

Fazit

Der ICE 4 ist technisch ein solider Fernzug – aber nicht mehr. Und der neue Standard? Mit dem ICE 4 gleicht DB Fernverkehr das Verkehrsmittel Eisenbahn weiter an Fernbus und Flugzeug an. Nachdem fachfremde Führungskräfte viele „Alleinstellungsmerkmale“ der Eisenbahn abgebaut haben – Pünktlichkeit, Gemütlichkeit, Abteile, Raum, Komfort, Liegewagen, Schlafwagen, eben die ganze „Freude am Fahren“ – bleibt dem ICE nur noch der ruinöse Preiswettbewerb mit Bus und Flugzeug.

Ach ja:

Sogar die Sauna im Zug soll es nicht mehr geben. Im ICE 4 ist die Klimaanlage so dimensioniert, dass sie im Sommer funktionieren soll.


Das Bild zeigt den ICE 4 „Martin Luther“ in Göttingen. DB Fernverkehr vergibt Fahrzeugnamen jetzt nicht mehr nur nach Städten sondern auch nach berühmten Persönlichkeiten.